Steiner: Freimaurerei  Start > Home Hermetik Verlag

Rudolf Steiner

Die Tempellegende und die goldene Legende
GA 93

WESEN UND AUFGABE DER FREIMAUREREI

VOM GESICHTSPUNKT DER GEISTESWISSENSCHAFT

Dritter Vortrag  / Berlin, 16. Dezember 1904

Es ist wichtig, über die Hochgradmaurerei zu sprechen, weil diese Lehrart sich wieder besondere Aufgaben setzt, und in der nächsten Zeit manches davon besprochen werden wird. Wir haben es im wesentlichen zu tun mit einem besonderen Ritus, nämlich mit dem, den man als vereinigten Ritus von Memphis und Misraim bezeichnet. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß dieser Memphis- und Misraim-Ritus eine hohe Anzahl von Graden hat, daß fünfundneunzig Grade durchgemacht werden müssen, und gewöhnlich die höchsten Leiter eines Großorients - namentlich des Großorients von Deutschland und von Großbritannien und Amerika - den 96. Grad haben. Diese Grade sind so, daß sie etwa bis zum Ende der achtziger Grade in einer Weise eingeteilt sind, wie ich es gleich auseinandersetzen werde.

Etwa vom 87. Grad angefangen, beginnen die eigentlichen okkulten Grade, in die nur diejenigen eingeweiht werden können, welche sich dem wirklichen Okkultismus widmen. Immer mache ich den Vorbehalt, daß es auf dem Kontinente wohl niemand gibt, der wirklich diese Grade alle durchgemacht hat,' oder der wirklich eine okkulte Freimaurerschulung durchgemacht hat. Aber das schadet bei der Maurerei nicht besonders viel, weil sie ihre Aufgabe erst wieder erhalten wird und dann werden auch die Organisationen da sein, die Hülle wird da sein, die man braucht, um das zu erreichen, was erreicht werden soll.

Nun muß ich verschiedene Freimaurerströmungen und ihre Tendenz angeben, wenn ich auch nur in Kürze etwas andeuten will. Zunächst ist einmal zu berücksichtigen, daß die ganze Hochgradmaurerei zurückführt auf eine Persönlichkeit, die vielfach genannt wird, aber auch sehr viel verkannt wird. Namentlich ist sie verkannt worden von den Geschichtsschreibern des 19. Jahrhunderts, die keine Ahnung davon haben, in welch schwierige Lagen der Okkultist im Leben kommen kann. Es handelt sich um die Persönlichkeit des von wenigen erkannten, viel berüchtigten Cagliostro. Der sogenannte Graf Cagliostro, in dem sich eine Individualität verborgen hat, welche nur den eingeweihtesten Okkultisten in ihrer wahren Eigenart bekannt ist, versuchte zunächst in London die Freimaurerei auf eine neue Stufe zu stellen. Denn sie war schon im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ziemlich auf dem Standpunkte, auf dem ich sie charakterisiert habe. In London gelang es dazumal nicht. Er versuchte es dann in Rußland und auch im Haag. Überall mißlang es aus ganz bestimmten Gründen.

Dann aber gelang es ihm, in Lyon aus einer Reihe dort lebender Freimaurer eine Philaletenloge zu begründen mit okkultem Inhalt, und zwar die Loge, welche genannt wurde Loge zur «Triumphierenden Weisheit». Der Zweck dieser Loge ist von Cagliostro angegeben worden. Was Sie aber darüber lesen können, ist nichts anderes als etwas von unverständigen Leuten Geschriebenes. Dasjenige, was darüber gesagt werden kann, sind ja eigentlich auch nur Andeutungen. Es handelte sich bei Cagliostro um ein zweifaches: erstens um den Unterricht zum Zwecke der Herstellung des sogenannten Steines der Weisen; zweitens um die Eröffnung des Verständnisses für das mystische Fünfeck, für das mystische Pentagramm. Nun kann ich Ihnen nur andeutend sagen, was diese zwei Dinge zu bedeuten haben. Es kann viel gespottet werden darüber, aber sie sind nicht nur symbolisch zu nehmen, sondern beruhen auf Tatsachen.

Der Stein der Weisen hat einen bestimmten Zweck, der von Cagliostro angegeben wurde: er sollte das menschliche Leben auf 5527 Jahre verlängern. Das erscheint dem Freigeist lächerlich. Tatsächlich ist es aber möglich, durch besondere Schulung das Leben ins Unermeßliche zu verlängern dadurch, daß der Mensch lernt, nicht mehr in seinem physischen Körper zu leben. Derjenige, der sich aber vorstellen wollte, daß den Adepten kein Tod im gewöhnlichen Sinne des Wortes treffe, der würde sich etwas Falsches darunter vorstellen. Auch wer glaubt, daß ein Adept nicht von einem Ziegelstein getroffen und erschlagen werden kann, auch der würde sich etwas Falsches vorstellen. Das würde allerdings nur dann gewöhnlich eintreten, wenn der Adept es zuläßt. Nicht um den physischen Tod handelt es sich, sondern um Folgendes. Der physische Tod desjenigen, der für sich selbst den Stein der Weisen erkannt und ihn herauszusetzen verstanden hat, ist für ihn nur ein scheinbares Ereignis. Für die anderen Menschen ist er ein wirkliches Ereignis, das einen großen Abschnitt in seinem Leben bedeutet. Für den, der in der Weise, wie Cagliostro es mit seinen Schülern gewollt hat, es versteht, den Stein der Weisen zu benützen, ist der Tod nur ein scheinbares Ereignis. Er bildet nicht einmal einen besonders wichtigen Abschnitt im Leben; er ist nämlich etwas, was nur für die anderen da ist, die etwa den Adepten beobachten können, und die sagen, daß er stirbt. Er selbst stirbt aber in Wirklichkeit gar nicht. Die Sache ist vielmehr so, daß der Betreffende gelernt hat, überhaupt nicht in seinem physischen Körper zu leben; daß er gelernt hat, alle diejenigen Vorgänge, die im Momente des Todes im physischen Körper plötzlich vor sich gehen, nach und nach während seines Lebens vor sich gehen zu lassen. Es hat sich mit dem Körper des Betreffenden alles schon vollzogen, was sich sonst im Tode vollzieht. Dann ist der Tod nicht mehr möglich, denn der Betreffende hat längst gelernt, ohne den physischen Körper zu leben. Er legt den physischen Körper in ähnlicher Weise ab, wie man einen Regenmantel auszieht, und zieht einen neuen Körper an, wie man einen neuen Regenmantel anzieht.

Nun, einen kleinen Begriff werden Sie sich wohl daraus bilden können. Das ist der eine Unterricht, den Cagliostro überlieferte - der Stein der Weisen -, der den physischen Tod zu einer Bedeutungslosigkeit herabsinken läßt.

Das zweite war die Erkenntnis des Pentagramms. Das ist die Fähigkeit, die fünf Körper des Menschen voneinander zu unterscheiden. Wenn jemand sagt: Physischer Körper, Ätherkörper, Astralkörper, Kama-Manas-Körper, Kausalkörper, so sind das bloß Worte oder, wenn es hoch kommt, abstrakte Begriffe. Damit ist aber noch nichts getan. Der Mensch, der heute lebt, kennt in der Regel kaum den physischen Körper; erst derjenige, der das Pentagramm kennt, lernt die fünf Körper kennen. Einen Körper erkennt man nicht, wenn man in ihm lebt, sondern erst dann, wenn man ihn als Objekt hat. Das ist dasjenige, was einen Durchschnittsmenschen unterscheidet von dem, der durch eine solche Schule gegangen ist, daß für ihn die fünf Körper Objekte geworden sind. Der gewöhnliche Mensch lebt ja auch in diesen fünf Körpern. Aber er lebt darinnen, er kann nicht heraustreten und sie anschauen. Höchstens seinen physischen Körper kann er anschauen, wenn er an seinem Leibe heruntersieht oder ihn im Spiegel sich beschaut. Die Schüler Cagliostros würden, wenn sie richtig seine Methode befolgt hätten, dazu gekommen sein, wozu einzelne Rosenkreuzer gekommen sind, die im Grunde genommen in einer Schule waren, die dieselbe Tendenz hatte. Sie waren in einer Schule der großen europäischen Adepten, die dahin führte, daß die fünf Körper Wirklichkeiten wurden, nicht bloß Begriffe blieben. Das nennt man das «Pentagramm-Kennen» und «Moralische Wiedergeburt».

Ich will nicht sagen, daß die Schüler des Cagliostro es nicht zu etwas gebracht haben. Sie haben es im allgemeinen dahin gebracht, den Astralleib zu begreifen. Cagliostro war äußerst geschickt, ihnen eine Anschauung vom Astralleib beizubringen. Lange bevor die Katastrophe über ihn hereinbrach, war es ihm gelungen, außer der Schule in Lyon auch Schulen in Paris, Belgien und Petersburg und einigen anderen Orten Europas zu errichten, aus denen später wenigstens einigermaßen solche Leute hervorgegangen sind, die den Grundstock abgegeben haben für diejenigen, welche es bis zum 18., 19., 20. Grade der Hochgradmaurerei gebracht haben. So hat immerhin der Graf Cagliostro, bevor er in den Kerkern von Rom sein Leben beendigen mußte, einen bedeutenden Einfluß auf die okkulte Maurerei in Europa genommen. Die Welt sollte über Cagliostro im Grunde genommen gar nicht urteilen. Ich deutete schon an, daß es im allgemeinen so ist, wenn die Leute über Cagliostro sprechen, wie wenn der afrikanische Hottentotte von der Einrichtung der Hochbahn spricht, weil es nicht einzusehen ist, in welchem Verhältnis die äußeren, scheinbar unmoralischen Taten zu den Weltereignissen standen.

Ich bemerkte schon früher, daß die Französische Revolution hervorgegangen ist aus den geheimen Vereinigungen der Okkultisten und daß, wenn man die Strömungen weiter verfolgt, man sie verfolgen könnte bis in die Schule der Adepten hinein.

Es ist möglich, daß das, was geschildert ist als Roman von Mabel Collins in dem Buch «Flita», schwer zu verstehen ist. Sie schildert da in einer sehr grotesken Weise, wie ein Adept an einem verborgenen Orte das Weltenschachbrett vor sich hat und die Figuren spielen läßt, und wie er sozusagen das Karma eines Kontinentes auf einem sehr einfachen Kärtchen bestimmte. Das ist nicht unmittelbar so, wie es da geschildert wird, sondern etwas viel Grandioseres als dies geht in der Tat vor sich, wovon das in «Flita» Geschilderte nur ein verzerrtes Abbild ist.

Nun, die Französische Revolution ist durchaus aus solchen Dingen hervorgegangen. Bekannt ist eine Geschichte, die in Büchern der Gräfin d'Adhémar enthalten ist. Da wird gesagt, daß vor dem Ausbruch der Französischen Revolution die Gräfin d'Adhémar, eine Hofdame der Marie-Antoinette, den Besuch erhielt eines Grafen von Saint Germain. Er wollte sich melden lassen bei der Königin und um Audienz bei dem König bitten. Der Minister Ludwig XVI. aber war der Feind des Grafen Saint-Germain; er konnte daher nicht an den König herankommen. Der Königin hat er aber mit großer Schärfe und Genauigkeit geschildert, was für große Gefahren bevorstehen. Aber seine Warnungen sind ja leider nicht beachtet worden. Er hat dazumal das große Wort gesprochen, das auf Wahrheit beruht: «Wer Wind sät, der wird Sturm ernten», und er setzte hinzu, daß er dieses Wort schon vor Jahrtausenden gesagt und es dann Christus wiederholt hat. Das war ein Wort, das für jeden Außenstehenden unverständlich ist.

Aber der Graf Saint-Germain hatte recht. Nur noch ein paar Züge will ich hinzufügen, die durchaus richtig sind. In Büchern über den Grafen Saint-Germain können Sie lesen, daß er 1784 am Hofe des Landgrafen von Hessen gestorben ist, der dann einer der vorgerücktesten deutschen Freimaurer gewesen ist. Er hat ihn bis zu seinem Tode gepflegt. Die Gräfin d'Adhémar erzählt aber in ihren Memoiren, daß er lange nach dem Jahre 1784 ihr erschienen sei, daß sie ihn noch sechsmal lange nach dieser Zeit gesehen habe. In Wahrheit ist er damals im Jahre 1790 bei einigen Rosenkreuzern in Wien gewesen und hat das gesagt, was auch richtig war: daß er sich auf fünfundachtzig Jahre nach dem Orient zurückzuziehen habe, und nach fünfundachtzig Jahren werden jene seine Tätigkeit in Europa wieder wahrnehmen können. 1875 ist das Gründungsjahr der Theosophischen Gesellschaft. Diese Dinge hängen alle in einer bestimmten Weise zusammen.

Auch in der Schule, die der Landgraf von Hessen begründet hat, handelte es sich wesentlich um diese zwei Dinge: um den Stein der Weisen und um die Erkenntnis des Pentagramms. In einer etwas verdünnten Gestalt lebt nun die damals von dem Landgrafen von Hessen begründete Maurerei fort. Nämlich diese ganze Maurerei, wie ich sie geschildert habe, nennt man die des ägyptischen Ritus, des Ritus von Memphis und Misraim. Dieser führt seine Entstehung zurück auf den König Misraim, der von Assyrien - vom Oriente - herübergezogen war, und nach der Eroberung Ägyptens in die ägyptischen Mysterien eingeweiht wurde. Das sind Geheimnisse, die noch aus der alten Atlantis stammen. Von da ab gab es eine fortdauernde Tradition. Die neue Freimaurerei ist nur eine Fortsetzung dessen, was damals in Ägypten begründet worden ist.

Bevor ich auf Einzelheiten eingehe, möchte ich sagen, daß die Hochgradmaurerei eine solche ist, die sich auch intimer ganz wesentlich unterscheidet von der gewöhnlichen Johannesmaurerei. Die gewöhnliche Johannesmaurerei beruht nämlich auf einer Art demokratischem Prinzip, und wenn das demokratische Prinzip in Erkenntnisdingen gehandhabt werden soll, so ist es selbstverständlich, daß es dazu führt, daß die versammelten Brüder im wesentlichen nichts anderes machen, als daß jeder seine Meinung vorbringt. Die Wahrheit ist aber nichts, worüber man Meinungen haben kann. Eine Wahrheit weiß man, oder man weiß sie nicht. Es kann niemand sagen, daß die drei Winkel im Dreieck 725 Grad haben statt 180.

Wenn die Menschen zusammensetzen und reden, so reden sie über ihre Meinung, auch unter Umständen über die höchsten Dinge. Aber alles das ist auf dem Plane der Täuschung und ebenso unzutreffend wie dasjenige, was der sagt, der nicht weiß wie groß die Winkelsumme im Dreieck ist, der nur eine Meinung davon hat. Ebenso wie man nicht diskutieren kann, ob die Winkelsumme eines Dreiecks so oder so viel Grade hat, ebensowenig kann man diskutieren über höhere Wahrheiten. Deshalb ist das demokratische Prinzip in Erkenntnisdingen unmöglich, weil es auf keiner Unterlage beruht. Das, was die Hochgradmaurerei von der Johannesmaurerei unterscheidet, das ist: daß man stufenweise die Wahrheit erkennen kann. Wer erkannt hat, der kann nicht mehr verschiedener Meinung sein. Man hat erkannt, oder man hat nicht erkannt. (S.104-108)