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Rudolf Steiner
Wege und Ziele des geistigen Menschen -
GA 125 - Vorträge von 1910

LEBENSFRAGEN IM LICHTE VON REINKARNATION UND KARMA

Bremen, 26. November 1910

          Wir wollen heute einmal in dieser Zweigversammlung den Ausgangspunkt von einigen Lebensfragen nehmen, die das unmittelbare Menschenleben berühren. Dann wollen wir ein wenig zu höheren spirituellen Gesichtspunkten aufsteigen. Ich möchte von zwei menschlichen Eigenschaften ausgehen, zwei menschlichen Fehlern oder Untugenden, die als etwas Unsympathisches empfunden werden, als etwas, was des Menschen Wert herabmindert. Wir wollen über das sprechen, was man den Neid und die Lügenhaftigkeit nennt.

          Wenn Sie im Leben Umschau halten, werden Sie leicht finden, daß gegen diese beiden menschlichen Eigenschaften eine ganz natürliche Antipathie herrscht. Und auch wenn wir zu Menschen hinaufsehen, die führend für andere Menschen im Leben stehen, sehen wir, daß von ihnen Wert darauf gelegt wird, gerade diese beiden Untugenden nicht zu haben. Zum Beispiel Goethe der sich viel damit beschäftigt hat, Seelenerkenntnis zu üben, über seine Fehler nachzudenken, erwähnt: Ich habe diesen oder jenen Fehler, diese oder jene Vorzüge, aber was mir das Wichtigste scheint, ist, daß ich den eigentlichen Neid nicht unter meine Untugenden rechnen kann. — Und der große Benvenuto Gellini sagt, er sei froh, daß er sich keiner Lüge zu zeihen brauche. — So sehen wir, daß diese großen Persönlichkeiten die Wichtigkeit, diese beiden menschlichen Eigenschaften zu bekämpfen, empfanden. Und der einfachste, naivste Mensch stimmt in der Wertung beziehungsweise in der Antipathie diesen Untugenden gegenüber mit den Führern der Menschheit überein.

          Wenn wir uns fragen, warum diese beiden Eigenschaften ganz instinktiv verurteilt werden, so werden wir gewahr werden, daß kaum etwas so wenig einer der wichtigsten irdischen Eigenschaften entspricht wie Neid und Lüge. Wenig entsprechen sie dem, was wir das Mitfühlen mit anderen Menschen nennen. Denn wenn wir irgend jemanden beneiden, so sind wir nicht geneigt, uns jener Tugend hinzugeben, die auf

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den tiefsten, innersten Wesenskern, auf das Göttliche des anderen Menschen eingeht. Denn Mitfühlen hat erst dann Wen, wenn wir nicht nur Mitgefühl haben, sondern wenn wir den Kern, die geistige Wesenheit des anderen Menschen schätzen können. Menschenschätzung aber, als Grundlage des Mitgefühls, schließt in sich, daß wir die Vorzüge des anderen Menschen gelten lassen und uns über die Erfolge, die Entwickelungsstufen anderer Menschen freuen können. Und das alles schließt den Neid aus. Neid zeigt sich als Eigenschaft, die mit dem allerstärksten Egoismus des Menschen nahe zusammenhängt.

          Ein Gleiches können wir von der Lüge sagen. Wenn wir eine Unwahrheit sagen, so übertreten wir das Gesetz, hinsichtlich der Wahrheit, ein alle Menschen umfassendes Band zu begründen. Was Wahrheit ist, ist für alle Menschen Wahrheit, und in nichts können wir so üben, ein Bewußtsein zu entwickeln, das alle Menschen umfaßt, als in der Wahrheit. Sagen wir eine Unwahrheit, so begehen wir einen Frevel gegen das Band, das sich von Menschenbrust zu Menschenbrust schlingen sollte. So stellen sich die Dinge dar, wenn wir sie als Menschen betrachten. Und wenn wir sie geisteswissenschaftlich betrachten, so wissen wir, daß sich in diesem Leben unsere früheren Verkörperungen auswirken und daß wir mancherlei Einflüssen ausgesetzt sind. Zwei große Einflüsse müssen immer wieder durchgemacht werden: die beiden Einflüsse, die wir den luziferischen und den ahrimanischen Einfluß nennen. Wir wollen uns über diese heute nicht kosmologisch verbreiten, wir wollen beim Menschenleben bleiben und uns vorstellen, daß wir durch viele Inkarnationen durchgeschritten sind, und daß, als wir die erste Inkarnation durchmachten, die luziferische Macht auf unseren astralischen Leib gewirkt hat. Seit jener Zeit war diese luziferische Macht die versuchende Macht auf unseren astralischen Leib. Es gibt Kräfte, die von Luzifer auf unseren astralischen Leib ausgeübt werden. Es ist im Grunde genommen das Bestreben Luzifers, auf unserer Erde Einfluß auf den Astralleib des Menschen zu gewinnen. Wir haben ihn in alledem zu suchen, was diesen herabzieht. Wir müssen ihn in all den Eigenschaften suchen, die als egoistische Leidenschaften, Begierden, Triebe und Wünsche im Astralleib leben, und so uns darüber klar sein, daß Neid einer der schlimmsten Einflüsse Luzifers ist. Alles was in un-

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serer Seele leben kann und unter Neid zu registrieren ist, gehört in sein Gebiet, und jedesmal, wenn wir eine Anwandlung von Neid haben, packt uns Luzifer an unseren Trieben in unserem Astralleib.

          Ahriman dagegen hat Einfluß auf unseren Ätherleib, und alles, was mit Störungen des Urteils zusammenhängt, ist auf ihn zurückzuführen, sowohl das Unwillkürliche, wenn wir ein falsches Urteil fällen, als auch das Willkürliche, wenn wir eine Lüge sagen. Verfallen wir der Lügenhaftigkeit, so wirkt in unserem Ätherleib Ahriman.

          Interessant ist es, daß wir Menschen diese Einwirkungen so stark fühlen, daß wir eine derart starke Antipathie haben, wenn sie auftreten, und daß die Menschen alles tun, um diese beiden Eigenschaften, Lüge und Neid, zu bekämpfen. Es wird nicht leicht Menschen geben, die bewußt gestehen: Ich will neidisch sein. — Zwar hat sich in der deutschen Sprache ein Sprachgebrauch eingeschlichen: Ich beneide dich. — Aber das ist nicht so schlimm gemeint. Der Mensch meint damit nicht den eigentlichen Neid. Sobald wir merken, daß wir neidisch sind, daß wir lügen, tun wir jedenfalls alles, es zu bekämpfen. Damit nehmen wir also auf diesem Gebiete den Kampf gegen Luzifer und Ahriman auf.

          Nun tritt aber häufig etwas auf, was wir beachten sollen, wenn wir uns der Geisteswissenschaft widmen. Wir können die einzelnen Anwandlungen von Neid und Lüge bekämpfen, aber wenn diese Eigenschaften in unserer Seele sitzen, wenn wir sie in früheren Inkarnationen erworben haben und sie nun bekämpfen, dann treten sie als andere Eigenschaften auf. Wenn wir versuchen, eine aus früheren Inkarnationen herrührende Neigung zum Neid zu bekämpfen, so nimmt der Neid eine Maske an. Luzifer sagt: Der Mensch kämpft gegen mich, er ist auf sein Neidgefühl aufmerksam geworden. Ich übergebe diesen Menschen meinem Bruder Ahriman. — Und es tritt eine andere Wirkung ein, die eine Folge der Bekämpfung des Neides ist. Bekämpfte Eigenschaften treten in Masken auf. Und der Neid, den wir bekämpfen, tritt dann häufig im Leben so auf, daß wir die Begierde bekommen, die Fehler anderer Menschen aufzusuchen und recht viel zu tadeln. Wir begegnen im Leben manchem Menschen, der wie mit einer gewissen hellsichtigen Kraft immer die Fehler und Schattenseiten an-

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derer Menschen herausfindet, und wenn wir dieser Erscheinung auf den Grund gehen, so liegt er darin, daß der Neid sich in Tadelsucht umgewandelt hat, und diese scheint dem betreffenden Menschen eine recht gute Eigenschaft zu sein. Es ist gut, so sagen sie, daß man auf das Vorhandensein dieser schlechten Eigenschaften aufmerksam macht. Hinter solcher Tadelsucht steckt aber nichts anderes als umgewandelter, maskierter Neid. Und wir sollten lernen zu erkennen, ob solche Eigenschaften ursprünglich sind, oder ob sie aus anderen umgewandelt sind. Da müssen wir überlegen, ob jemand in der Jugend neidisch war. Vielleicht haben wir ihm diesen Neid ausgetrieben, er ist jetzt ein tadelsüchtiger Mensch geworden.

          Auch die Lüge wandelt sich im Leben sehr häufig und zeigt sich in anderer Maske. Lügenhaftigkeit kann dazu führen, daß wir uns ihrer schämen. Aber wir rotten sie nicht leicht mit der Wurzel aus, sie wandelt sich sehr häufig in eine gewisse Oberflächlichkeit gegenüber der Wahrheit. Es ist wichtig, daß wir so etwas wissen, dann beachten wir, was uns an einem anderen Menschen im Leben gegenübertritt. Solche Menschen sind mit einer Antwort befriedigt, von der wir uns fragen: Wie kann er von einer solchen Antwort befriedigt sein? — Sie sagen leicht: Ja, ja, so ist es, so ist es! — Das ist sehr häufig das Umwandlungsprodukt der eigentlichen Lügenhaftigkeit. Wir müssen das Karmagesetz insbesondere auf solche Eigenschaften hin prüfen. Die Menschen achten nicht darauf, denn sie sind die vergeßlichste Rasse gegenüber allen anderen, die sich auf den verschiedenen Planen geltend machen.

          Es zeigt sich zum Beispiel, daß jemand mit uns bekannt war. Wir bleiben ihm im Leben nahestehend und beobachten: mancherlei wandelt sich an ihm. Wir stehen ihm nach dreißig Jahren noch nahe, und wenn wir im Leben zurückschauen, würden wir in seinem Leben merkwürdige Zusammenhänge finden. Aber der Mensch selber weiß nichts davon, er hat alles vergessen. Aber man sollte im Leben wirklich so etwas beobachten. Es zeigen sich dann wesentliche Zusammenhänge. Ein Mensch ist zum Beispiel in seiner Jugend neidisch. Der Neid tritt nachher nicht mehr hervor, und es zeigt sich die Umwandlung desselben im Alter wieder dadurch, daß der Betreffende sich mit der Eigenschaft der Unselbständigkeit zeigt, des Abhängig-sein-Wollens von

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anderen Menschen oder von Vorstellungen des Nichtvertragen-Könnens, auf eigenen Füßen zu stehen, immer andere Menschen haben zu müssen, die raten und helfen. Eine gewisse moralische Schwäche tritt als Folge des umgewandelten Neides auf, und wir werden immer sehen, wenn jemand diese moralische Schwäche hat, daß da die karmische Folge des umgewandelten Neides vorliegt.

          Und umgewandelte Lügenhaftigkeit erzeugt im späteren Leben ein scheues Wesen. Wer in seiner Jugend lügenhaft war, getraut sich im Alter nicht, den Leuten in die Augen zu schauen. Auf dem Lande hat man ein instinktives, elementares Wissen davon, das sich zwar nicht in Begriffen auslebt. Man sagt, man solle dem Menschen nicht trauen, der einem nicht ins Auge schauen kann. Scheuheit, Zurückhaltung, nicht aus Bescheidenheit, sondern aus Furcht, anderen Menschen gegenüberzutreten, ist die karmische Folge der Lügenhaftigkeit schon in einer Inkarnation.

          Was so als moralische Schwäche in einer Inkarnation auftritt, wirkt organisierend in der nächsten Inkarnation. Die seelische Schwäche, welche die Folge des Neides ist, kann in der gegenwärtigen Inkarnation, wo der Leib schon aufgebaut ist, diesen Leib nicht besonders zerstören. Aber wenn wir durch den Tod hindurchgehen und zu einer neuen Inkarnation zurückkehren, wirken diese Kräfte so, daß sie organisch-leibaufbauende Schwäche werden, und wir sehen, daß ein schwacher Leib von solchen Menschen aufgebaut wird, die den umgewandelten Neid in einer vorhergehenden Inkarnation gehabt haben. Wenn wir sagen, daß ein Mensch schwach ist — aber ohne Vorurteil, denn die Menschen müßten wissen, was schwach oder stark ist —, wenn ein Mensch leicht empfänglich ist für diese oder jene Einflüsse, keine Widerstandskraft hat, dann wissen wir, daß sein Leib schwach ist und, daß er diesen schwachen Leib als Folge früheren umgewandelten Neides hat.

          Nun müssen wir uns aber sagen: Wenn ein Kind in eine gewisse Umgebung hineingeboren ist als schwaches Kind, haben wir uns nicht nur dieses innere Karma wirksam zu denken, sondern auch, daß wir mit Menschen unserer Umgebung aus Gründen zusammengeführt sind —nicht zufällig. Gerade diese Seite des Karma, daß wir unserer Umge-

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bung angepaßt sind, ist ungeheuer leicht einzusehen. Ein Edelweiß zum Beispiel kann ja auch nur in der Umgebung gedeihen, der es angepaßt ist. Auch der Mensch kann nur in der Umgebung gedeihen, die ihm angepaßt ist. Die allereinfachste Logik müßte das sagen, denn man kann das Leben nur verstehen, wenn man dies in Betracht zieht. Jedes Wesen paßt zu seiner Umgebung, nichts ist zufällig.

          So werden wir unter diejenigen Menschen hineingeboren, die wir beneidet haben, oder die wir getadelt haben. Und so stehen wir mit einem schwachen Leib unter denjenigen Menschen, die wir in der vorhergehenden Inkarnation beneidet haben um das, was sie erreicht haben, oder dergleichen. Es ist von unendlicher Bedeutung, so etwas zu wissen, denn nur wenn man dies erwägt, können wir das Leben verstehen. Wenn ein Kind mit einem schwachen Leib in eine Umgebung hineingeboren wird, sollten wir uns fragen: Wie haben wir uns da zu verhalten? — Das richtigste Verhalten muß dasjenige sein, was moralisch das hochsinnigste ist: zu verzeihen. Dies wird auch hier am besten zum Ziel führen, und dies ist auch die beste Erziehung für den betreffenden Menschen. Es wirkt ungeheuer erzieherisch, wenn wir einem schwachen Kinde, das in unsere Umgebung hineingeboren ist, liebend verzeihen können. Derjenige, durch den das wirklich kraftvoll geschieht, wird schon sehen, daß das Kind dadurch stärker und stärker wird. Bis auf das Denken hinein muß verzeihende Liebe wirken, denn dadurch kann das Kind Kräfte sammeln, um sein früheres Karma umzubiegen und in die richtige Richtung zu bringen. Das Kind wird auch leiblich stark werden. Ein solches Kind zeigt oftmals Eigenschaften, die unangenehm sind. Wenn wir es lieben — bis ins allertiefste Herz, so wirkt das als das intensivste Heilmittel, und wir werden bald finden, wie wirksam dieses Heilmittel ist.

          Entsprechendes gilt, wenn wir die andere Eigenschaft nehmen, die Lügenhaftigkeit. In einer Inkarnation wird da der Mensch im Alter scheu. Das ist eine seelische Eigenschaft. Aber in der nächsten Inkarnation wirkt diese Eigenschaft sich als Architekt des Leibes aus. Da tritt das Kind nicht nur schwach auf, sondern so, daß es überhaupt kein rechtes Verhältnis zu seiner Umgebung gewinnen kann, daß es schwachsinnig ist. Da müssen wir uns denken, daß wir die Menschen sind, die

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von einem solchen Menschen oft belogen worden sind, und wir sollten dasjenige, was uns als Schlimmes zugekommen ist, mit dem Besten vergelten. Man muß versuchen, einem solchen Menschen recht viel von dem beizubringen, was Wahrheiten des geistigen Lebens sind, dann werden wir sehen, wie er aufblüht. Immer sollten wir da den Gedanken haben: Wir sind in früheren Inkarnationen von einem solchen Menschen viel belogen worden, und wir müssen alles tun, um ein wahres Verhältnis eines solchen Kindes zu seiner Umgebung herzustellen.

          Da sehen wir, wenn wir diese Dinge ins Auge fassen, daß wir als Menschen immer berufen sind, den anderen Menschen zu helfen, ihr Karma in richtiger Weise auszutragen. Der versteht nichts von Karma, der meint, er müsse den Menschen seinem Karma überlassen. Wenn wir einen Menschen finden, der uns angelogen hat, und wir würden glauben, er müsse sein Karma austragen, so würden wir damit zeigen, daß wir nichts von Karma richtig verstehen. Denn die richtige Idee würde sein, daß wir zunächst möglichst Hilfe spenden. Wenn gesagt wird, wir sollten den Menschen seinem Karma überlassen, so könnte es höchstens auf esoterischem Gebiet gesagt werden, aber im Leben niemals.

          Denken wir uns, wir bemühten uns, anderen Menschen je nach ihrem Karma zu helfen. Nehmen wir einen Menschen, der ein scheues Wesen hat. Wir bemühen uns liebevoll um ihn. Da stellen wir einen Zusammenhang zwischen diesem Menschen und uns her. Wir werden dann sehen, daß bei diesem Menschen im Alter wiederum irgend etwas zu uns zurückkommt. Aber wir müssen das dem Karma überlassen, wir dürfen nicht darauf spekulieren. Wir müssen es als Pflicht ansehen, einem anderen Menschen zu helfen. Und hier komme ich auf ein subtiles Gesetz. Alles, was wir dem anderen tun zum Ertragen und Überwinden seines Karma, wird immer dazu führen, daß nicht nur dem anderen geholfen wird, sondern auch dazu, daß wir etwas für uns selber tun. Aber was wir uns selber tun, zum Beispiel um recht schnell vorwärtszukommen, wird uns in der Regel nicht viel helfen. Fruchtbar werden kann für den Menschen nur das, was er für andere tut. Uns selber können wir nichts Gutes erweisen. Wenn wir einem Menschen sein Karma zu überwinden helfen, ergeben sich die besten Wirkungen, denn was wir für andere tun, ist Gewinn für die Menschheit. Für uns

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selber können wir nichts tun, das müssen wiederum die anderen tun. Darum müssen wir im höchsten Sinne auffassen: Mitgefühl für andere Menschen. — Entwickeln wir dieses Mitgefühl im höchsten Sinn, dann fühlen wir auch in bezug auf Neid und Lüge diese Pflicht des Mitgefühls anderen Menschen gegenüber. Wir entwickeln auf diese Weise ein Solidaritätsgefühl, das sich auf alle Menschenseelen erstreckt.

          Die Menschheit ist überhaupt daraufhin veranlagt, daß jeder einzelne Mensch seinen Zusammenhang mit dem ganzen Menschentum immer fühlt. Und dieses Gefühl in seinen verschiedenen Lebensäußerungen sollte auch in seinen Kämpfen gegen Luzifer und Ahriman leben. Indem wir versuchen, schwächlichen Menschen, die einen physischen Leib haben, der unter dem Einfluß des überwundenen Neides schwach geworden ist, zu helfen, indem wir uns klar werden, wie wir uns gegen diese Menschen verhalten sollen, kann uns deutlich werden, daß die Welt erfüllt ist von diesen Impulsen von Luzifer und Ahriman, und wie sie überwunden werden können im Laufe der Erdenentwickelung. Da kommt nun jeder Mensch, wenn er solche Zusammenhänge im Gefühl verfolgt, notwendig dazu, ein immer tieferes Gefühl von dem Menschentum überhaupt zu haben. Gewissermaßen gibt es für jeden Menschen die Möglichkeit, etwas zu fühlen, was ihn mit allen Menschen verbinden kann. Dieses Gefühl hat sich im Laufe der Menschheitsentwickelung gar sehr verändert.

          Gehen wir drei bis vier Jahrtausende zurück, da war das Gefühl von dem, was die Menschen als Allgemeinmenschliches haben, deutlich bei allen Menschen ausgeprägt. Gehen wir immer weiter zurück, zurück durch die nachatlantischen Kulturen, zurück zur alten Atlantis — immer waren wir da verkörpert —, und wenn wir noch weiter zurückgehen, so kommen wir zu einer Inkarnation, in der wir zum ersten Mal in einen physischen Leib herabgestiegen sind. Vorher waren wir in einem Geistigen, so sagten sich die Menschen noch vor drei bis vier Jahrtausenden. Solche weisheitsvollen Gefühle finden wir um diese Zeit bei allen Menschen. Und die Seele fragte sich: Was bist du dadurch, daß du ein Mensch bist? — Und sie antwortete sich: Ich war, ehe ich zum ersten Mal in meinen Leib herabstieg, vorher in einem Meer göttlich-geistigen Lebens und Webens. Da war ich darin, und darin

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waren auch alle anderen Menschenseelen. Das war unser gemeinsamer Ursprungspunkt. — Ein solches Grundgefühl in den Menschenseelen gab die Möglichkeit, brüderlich, allgemein menschlich zu fühlen, da der Ursprung aller Menschenseelen als ein gemeinsamer gefühlt wurde. Und wenn wir uns daran erinnern, wie in allen alten Mysterienschulen auf die Menschen gewirkt wurde, um sie zu guten Menschen zu machen, so war es überall so, daß man, um die Menschen zu guten Menschen zu machen und sie für die tiefsten, intimsten, ergreifendsten Gefühle empfänglich zu machen, auf den gemeinsamen Ursprung hinwies, auf das Hervorgehen aller Menschen aus der gemeinsamen göttlichen Quelle. Und es war leicht, dies in der Seele anzuschlagen. Aber es wurde immer schwieriger und schwieriger. Wenn man zum Beispiel bei einer so großen Anzahl von Menschen, wie sie hier sitzen, dies angeschlagen hätte, würde das damals einen überwältigenden Eindruck erzeugt haben.

          Aber immer kälter wurden die Gefühle der Menschheit gegenüber diesem gemeinsamen Ursprung. Das mußte geschehen, da die Menschheit durch einen gewissen Punkt der Entwickelung durchgehen mußte. Wenn ich diesen charakterisieren will, so müssen wir auf die menschliche Zukunft, auf das Ziel der Erdenentwickelung schauen.

          Geradeso wie der Ursprung ein gemeinsamer ist und alle Menschenseelen aus einem gemeinsamen Urgrund entstanden sind, werden sich alle Menschenseelen in einem gemeinsamen Ziel zusammenfinden. Und wie können wir Menschen dies Ziel finden, damit wir uns weiter entwickeln, wenn die Erde an ihrem Ziel angelangt sein wird und als materielle Kugel unter uns Menschen versinkt und zerstiebt? Wie können wir uns über dieses Ziel so verstehen, daß wir gemeinsam in eine Zukunft hineingehen? Bis in die tiefsten Fasern der Seele muß das Bewußtsein dieser Gemeinsamkeit gehen. Das ist nur möglich dadurch, daß wir als Menschen gegenüber der Zukunft so fühlen lernen, wie die alten Menschen gegenüber dem Menschenursprung gefühlt haben. Dies Gefühl ist in der Menschheit immer mehr erkaltet. Aber immer mehr muß in den Seelen das Leben, das Gefühl, die Gewißheit erwarmen, daß etwas für alle Menschen gemeinsam sein kann als Menschenziel. Ob wir diesen oder jenen Entwickelungsgrad haben, wo wir auch stehen im Leben, dadurch, daß wir Menschen sind, muß etwas in unserer Seele

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stattfinden können, daß wir uns sagen: Wir streben alle einem Ziel zu. — Und auf dieses Ziel hinschauend, müssen wir uns sagen können: Das ist etwas, was jeden Menschen angehen kann. — Wir müssen in unserem tiefsten Inneren etwas finden können, in dem wir uns in einem Punkte gemeinsam zusammen finden.

          Im Okkultismus ist dieses mit dem Namen Christus gegeben. Denn gerade so, wie man vor Jahrtausenden fühlen, empfinden, wissen konnte, unsere Seelen sind alle aus dem gemeinsamen Gottesurgrunde und -ursprung herausgeboren, so werden die Menschen immer mehr lernen, sich zu sagen: Wie wir, wenn wir denken, uns in einem Gemeinsamen zusammenfinden, wie wir uns einig sein können in einem gemeinsamen Denken, wie das in allen Menschenhäuptern leben kann, so gibt es etwas, was wie ein Gemeinsames in allen Herzen leben kann. Es gibt etwas, was wie ein Lebensblut gemeinsam in allen Menschenherzen fluten kann. — Wenn uns das immer mehr durchglüht in den folgenden Inkarnationen, dann werden diese so verlaufen, daß, wenn die Erde ihr Ziel erreicht haben wird, so daß sie in den künftigen planetarischen Zustand, den Jupiter, übergehen wird, die Menschenseelen sich in dem Gemeinsamen, dem Christus, zusammenfinden werden, eins sein werden. Darum, damit dies geschehen kann, mußte das Mysterium von Golgatha stattfinden. Dazu ist der Christus im Jesus Mensch geworden, daß dieser gemeinsame Strom der Wärme von Menschenherz zu Menschenherz fließen kann. Das Gefühl für das gemeinsame Menschenziel geht aus von dem Kreuz auf Golgatha. So verbinden sich Vergangenheit und Zukunft. Das ist das Ziel der Zukunftsentwickelung der Menschheit. Ob die Menschen diesen gemeinsamen Namen des Christus beibehalten werden, darauf kommt es nicht an, sondern darauf, daß alle Menschen begreifen lernen, daß dasselbe Gefühl, welches die Menschen ursprünglich von ihrem gemeinsamen Ursprung hatten, in ein Gefühl einer gemeinsamen Erdenzukunft umgewandelt werde.

          Die Erdenentwickelung ist geteilt in diese zwei Hälften: Die eine geht bis zu dem Kreuz auf Golgatha und die andere von dem Kreuz auf Golgatha bis zum Erdenende. Und die Menschen haben viel, viel zu tun, um den Christus und seine Entwickelung zu begreifen. Und

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wenn diese begriffen sein wird, dann werden sich die Menschen in gemeinsamem Ziel für die Jupiterentwickelung finden. Und alle unsere einzelnen Erkenntnisse laufen darauf hinaus, dieses Prinzip des Christlichen zu finden.

          Wenn wir heute versucht haben zu erkennen, wie Karma von einer Inkarnation zur anderen leibgestaltend wirkt, dann verstehen wir, wie die Menschen immer vollkommener werden können im Durchgang durch die Inkarnationen. Ohne daß wir ihn Christus nennen, sprechen wir noch von dem Christus. Wir sehen ab von dem Persönlichen. Wenn wir ein Kind vor uns haben, das uns anlügt, sagen wir uns: Dies Kind hat uns belogen. Wie können wir ihm helfen, daß es sein Karma umwandelt? — Wir fragen nicht danach, daß es uns schadet. Wir sehen aufden Wesenskern des Kindes, und damit bringen wir das Karma vorwärts. Tief menschliches Zusammenfühlen wird sich in solcher Art in der Welt immer mehr geltend machen.

          So ist dasjenige, was wir Geisteswissenschaft nennen, wenn wir darunter wirklich Verständnis der Lebensvorgänge im Sinne von Reinkarnation und Karma begreifen, die Vorbereitung zu einem wahren Erfassen des Christus-Impulses in der Welt. Es kommt nicht darauf an, wie der Mensch seine Worte setzt, sondern wer wirklich das Entwickelungsgesetz begreift, der kann gar nicht anders als Christ sein, sei er Hindu oder Mohammedaner oder Angehöriger eines anderen Religionssystems. Es kommt darauf an, daß man den Impuls aufnimmt in die Seele, welcher der Impuls zu dem gemeinsamen Ziel der Menschheit ist, wie einst in den alten Menschen der Impuls lebte, hinzuschauen auf den gemeinsamen Ursprung der Menschen.

          Daher führt Geisteswissenschaft immer zu dem Christus-Impuls. Sie kann gar nicht anders. Man könnte also einfach Geisteswissenschaft, wie sie heute auftritt, auch so auffassen, daß man sagt: Wenn auch derjenige, der sie kennenlernt, vielleicht nichts wissen wollte vom Christentum, wenn er Anthroposoph wird, so wird er schon in Wahrheit zu Christus geführt. In der Realität würde er schon dahin geführt werden, selbst wenn er mit Worten dagegen kämpfen wollte.

          So haben wir heute an unsere Seelen herangebracht, was unmittelbar mit dem Leben zusammenhängt. Wir haben gesehen, wie wir uns

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zu verhalten haben, wenn ein Kind lügt oder Neid fühlt. Wir müssen uns klar sein darüber, daß der karmische Faden durch alle Inkarnationen der Menschenseele verläuft, daß Karma schicksalsgemäß für sie gesponnen wird, und daß wir, wenn wir zurückschauen auf den Ursprung in Gott und dann hinschauen zum Menschenziel, wiederum hinschauen zu Gott.

          Wir schauen zurück auf die Kultur der alten Rishis. Sie haben auf den Menschenursprung verwiesen. Hingewiesen haben sie in jene Welt, in welcher der Mensch war, bevor er zu seinen Inkarnationen herabgestiegen ist. Diese Lehre drang durch die Jahrhunderte und Jahrtausende. Der große Buddha hat sie gelehrt, indem er sagte: Alles dies ist den Menschen durch den Hang zur Verkörperung verlorengegangen, was den Zusammenhang mit der Welt des Ursprungs schuf. — Er forderte auf, die Welt der Verkörperungen zu verlassen, damit die Seele wiederum in den geistigen Welten des Ursprungs leben kann. Und hingewiesen haben die Propheten, indem sie den Christus vorher verkündeten, auf eine Zukunft, in welcher die Menschen wiederum ihr rechtes Erdenziel finden werden. Und dann steht der Christus selber da, dann vollzieht er das Mysterium von Golgatha. Und dann kann der Mensch durch dieses Mysterium von Golgatha entgegengeführt werden der göttlich-geistigen Erdenzukunft. Es gibt vielleicht kaum etwas so Erschütterndes als zwei Aussprüche, die ähnlich bei Buddha wie bei Christus sind und die den Gegensatz zwischen alter und neuer Zeit uns vor die Seele stellen können. Buddha steht unter seinen Schülern, er weist sie hin auf den Leib und sagt: Ich schaue zurück von Inkarnation zu Inkarnation, wie ich immer wieder hineingegangen bin in einen solchen menschlichen Leib, wie ich ihn jetzt trage. Und dieser Leibestempel ist mir immer von neuem aufgebaut von den Göttern. Und immer wieder suchte die Seele in neuen Inkarnationen in diesen Leibestempel hineinzukommen. Jetzt aber weiß ich, daß ich nicht mehr nötig habe, in einen Leibestempel zurückzukehren. Ich weiß, es sind zerbrochen die Balken, verfallen die Pfosten. Ich habe durch meine Erkenntnis meine Seele von diesem Leib frei gemacht. Getötet ist Wunsch und Begierde, in einen solchen Leib zurückzukehren. — Das war ein großes, ein gewaltiges Ergebnis der alten Zeit des Zurückschauens auf

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den Menschenursprung. Buddha und mit ihm seine Schüler und Nachfolger streben an, frei zu werden von dem Leibe. Welch ein gewaltiger Unterschied, wenn der Christus vor seinen intimen Schülern steht und also spricht — ganz gleichgültig, wie wir es auffassen; wir nehmen es als Worte des Christus, wie sie sind. Christus sagt: Reißet nieder den Tempel meines Leibes, und ich will ihn in drei Tagen wiederum aufbauen. — Er, der Christus, sehnt sich nicht danach, frei zu werden von diesem Leibestempel. Er will ihn wieder aufbauen.

          Nicht als ob der Christus selber wiederum in folgenden Inkarnationen in einem solchen physischen Leibe da sein würde. — Aber was er seine Schüler und alle Menschen lehrt, das ist: wiederum zurückzukehren in diesen Erdentempel von Inkarnation zu Inkarnation, um in einer jeden den Christus-Impuls größer, intensiver zu machen, damit wir Menschen immer mehr von dem Erdendasein werden aufnehmen können, um zuletzt so dazustehen, daß wir sagen: Wir haben in diesen Inkarnationen gearbeitet, um ähnlicher dem Christus zu werden. Und wir werden ihm ähnlicher, indem wir in diesen Leibestempel aufnehmen, was der Christus vom Kreuz auf Golgatha hat ausströmen lassen als sein eigenes Wesen. Das lassen wir strömen von Menschenseele zu Menschenseele, denn nur dadurch verstehen wir uns jetzt. Das ist das Gemeinsame für alle Menschenseelen der Erdenzukunft. Und dann wird der Zeitpunkt kommen, wo die Erde als Planet vergehen wird, wo sie zerschellt, zerstäubt, und wo die Menschen in vergeistigtem Zustand zur nächsten Verkörperung auf einen anderen Planeten übergehen werden.

          Das Wort des großen Buddha: Ich fühle, wie die Pfosten meines Leibestempels nicht mehr tragen, wie die Balken zusammenbrechen — das kann uns vor der Seele stehen wie ein Schlußpunkt des gemeinsamen Menschenursprungs. Und wenn wir hinschauen auf dasjenige, was der Christus zu seinen Jüngern spricht: Ich will aufbauen diesen Leibestempel in dreien Tagen — das kann uns sein wie der Beginn der Zeit, die auf das Erdenziel hinweist. Und wir dürfen diesen Ausspruch erweitern, denn wir können sagen: Es breche ab dieser Tempel im Tode, aber wir wissen, daß wir die besten Kräfte, die wir uns in dieser Inkarnation angeeignet haben, für unsere nächste Inkarnation verwenden werden. Wir haben diese Kräfte empfangen, indem wir unsere Seelen der Christus-Erkenntnis hingaben. Wir werden auf diese Weise von Inkarnation zu Inkarnation immer weiterkommen. — Wenn die Menschen diesen Leibestempel zum letzten Mal aufbauen, werden sie zum Verständnis des zukünftigen, gemeinsamen Erdenziels gekommen sein.

          Allein das Mysterium von Golgatha ist es, was der ganzen Menschheit der gemeinsame Impuls der Menschheits- und der Erdenentwickelung sein kann.

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S. 210: Der Neid ist so recht eine luziferische Eigenschaft, ... Wogegen die Lügenhaftigkeit eine Eigenschaft ist, die von Ahriman kommt.

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S. 214: Neid dagegen oder Neid maskiert als Tadelsucht und Kritikasterei, zeigt sich in einer späteren Lebensepoche derselben Inkarnation so, daß der betreffende Mensch die Eigenart hat, sich an andere anzulehnen, daß er zu allen Kleinigkeiten Rat braucht, am Liebsten immer zu einem anderen laufen möchte der ihm Rat geben soll. Selbständigkeit im Leben geht verloren durch Neid, Kritikasterei, Tadelsucht. Seelisch schwach wird ein solcher Mensch.

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